Dass die Kinderarmut in einem so reichen Land wie unserem seit drei Jahrzehnten mehr oder weniger kontinuierlich zunimmt und mittlerweile mehr als drei Millionen (also 21,8 Prozent) aller jungen Menschen in Familien aufwachsen, die nach EU-Kriterien einkommensarm oder zumindest armutsgefährdet sind, hätte längst zu einem riesigen öffentlichen Aufschrei führen müssen.
Keine Bundesregierung, egal welcher parteipolitischen und personellen Zusammensetzung, ist konsequent gegen diesen familien- und sozialpolitischen Langzeitskandal vorgegangen.
Die von SPD, Grünen und FDP gebildete Ampel-Koalition wollte mit der Kindergrundsicherung für Abhilfe sorgen, streitet inzwischen aber seit 15 Monaten über die Ausgestaltung ihrer Reform. Schon der mit großer Verspätung eingebrachte Gesetzentwurf der Bundesregierung war bloß noch eine Schrumpfversion des Ursprungskonzepts.
Aufgrund des teils offenen, teils versteckten Widerstandes der FDP – von der Unionsmehrheit im Bundesrat und den Mehrheitsverhältnissen im Vermittlungsausschuss ganz zu schweigen – scheint aus der Kindergrundsicherung ein parlamentarischer Rohrkrepierer zu werden.
Zusammengefasst werden sollen mit ihr das Kindergeld, das Bürgergeld und die Sozialhilfe für Kinder, der Kinderzuschlag sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes. Außen vor ließ man hingegen den steuerlichen Kinderfreibetrag (für wohlhabende und reiche Familien) sowie die kinderbezogenen Asylbewerberleistungen (für ganz arme Familien). Damit bleibt der im Sammelbegriff „Kindergrundsicherung“ formulierte Anspruch unerfüllt, sämtliche Leistungen des Staates für die Altersgruppe zu integrieren und zu vereinheitlichen.
Das neue Leistungssystem besteht aus einem für alle Familien gleichen Kindergarantiebetrag, der dem bisherigen Kindergeld entspricht, sowie einem altersgestaffelten und einkommensabhängigen Kinderzusatzbetrag, der den Kinderzuschlag und das Bürgergeld für Kinder ersetzen soll. Kaum hatten erste Sondierungsgespräche für den Bundeshaushalt 2024 begonnen, geriet die Kindergrundsicherung in den Strudel sich zuspitzender Verteilungskämpfe zwischen den Koalitionspartnern.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus bezifferte die durch Einführung der Kindergrundsicherung entstehenden Mehrkosten pauschal mit zwölf Milliarden Euro jährlich. Dieser ins Schaufenster gestellte Betrag provozierte Finanzminister Christian Lindner, der einen Kostenrahmen von zwei bis drei Milliarden Euro nannte, weil er wieder die „Schuldenbremse“ einhalten wollte, Steuererhöhungen prinzipiell ablehnt und der Kindergrundsicherung skeptisch gegenübersteht.
Armutsbetroffene Familien müssen bessergestellt werden
Bei dem Konflikt zwischen FDP und Grünen handelt es sich aber nicht bloß um einen haushaltspolitischen Streit. Vielmehr stecken auch gravierende Differenzen der beiden Koalitionspartner im Hinblick auf die Familien- und Sozialpolitik dahinter. FDP und Grüne gehen von einem Armutsverständnis aus, das unterschiedlicher kaum sein könnte.
Während die Liberalen ein Kind nicht mehr für arm halten, sobald seiner Familie eine staatliche Transferleistung bewilligt wird, müsste diese nach Ansicht der Grünen deutlich steigen, damit es gesund ernährt, gut gekleidet und von seinen Eltern auch mal ins Theater, ins Kino oder ins Restaurant mitgenommen werden kann.
Um jene Kinder, deren Eltern trotz ihnen zustehenden Leistungen weder das Bürgergeld noch den Kinderzuschlag beantragen, zu erreichen, muss ein möglichst barrierearmes Grundsicherungssystem geschaffen werden. Allerdings macht es sich die FDP zu leicht und schiebt den Eltern im Grunde die Alleinschuld an der Kinderarmut zu, wenn sie diese darauf reduziert, dass manche Familien ihnen eigentlich zustehende Transferleistungen nicht in Anspruch nehmen.
Um allen Kindern in Deutschland ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist mehr nötig als eine Zusammenfassung der bisherigen familienpolitischen Leistungen. Diese müssen armutsfest gemacht und von einer Stelle aus bedarfsorientiert vergeben werden. Sozial benachteiligte Familien können ihren Kindern weder ein gutes Leben noch gleiche Bildungschancen und optimale Entwicklungsmöglichkeiten bieten.
Der wachsenden Kinderarmut sollte daher mit einem Dreiklang begegnet werden: Anzusetzen ist auf der individuellen, auf der infrastrukturellen und auf der institutionellen Ebene. Erforderlich ist mehr individuelle Förderung, ein Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sowie eine finanzielle Besserstellung armutsbetroffener und -gefährdeter Familien.
Befremdlich wirkte, dass sich die SPD aus dem Zwist ihrer Koalitionspartner weitgehend heraushielt und ihr Kanzler Olaf Scholz selbst dann keinen Gebrauch von seiner Richtlinienkompetenz machte, als die Streitigkeiten eskalierten. Da sich im parlamentarischen Verfahren monatelang nichts bewegte, goss Lisa Paus kürzlich mit ihrer Forderung nach 5000 Stellen für die Familienservicestellen zur Verwaltung der Kindergrundsicherung erneut Öl ins Feuer.
Geschickt war dieser Schachzug der zuständigen Fachministerin ebenfalls nicht, denn nun droht sie und mit ihr das grüne Prestigeprojekt zu scheitern.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Sein Buch „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ erscheint am 10. April