Für eine ordentliche Abmeldung hatte es noch gereicht. Der Firmenchef sei über Ostern erkrankt und habe „sich mit sofortiger Wirkung aus dem aktiven Engagement“, hieß es in einer Mitteilung der „Dr. Jürgen Schneider AG“, die am späten Abend des 12. April 1994, eine Woche nach dem Osterwochenende, herausgegeben wurde.
Zu dieser Zeit waren Schneider und seine Frau, die alleinigen Inhaber der AG, bereits untergetaucht. Die in Deutschland zurückgebliebenen Vorstandsmitglieder, allesamt rechtlich betrachtet Angestellte, kündigten Gespräche mit den Banken an, „um zu prüfen, in welchem Umfang Unterstützung gewährt werden kann“.
Dafür war es zu spät. Denn was Jürgen Schneider in gut einem Jahrzehnt aufgebaut hatte, ließ sich nicht mehr retten: Das gesamte Immobilienimperium stand auf Fundamenten, gegen die Treibsand geradezu stabil war. 5,4 Milliarden Mark betrugen die Bankschulden der AG mit ihren rund 130 einzelnen Tochterfirmen im April 1994, doch noch wusste das niemand so genau – die Schätzungen schwankten zunächst zwischen drei und acht Milliarden.
Die drei wichtigsten Banken der Bundesrepublik, die Deutsche, die Dresdner und die Commerzbank, konnten (oder wollten) zunächst keine Angaben zur Höhe drohender Kreditausfälle machen. Inoffiziell aber war im Frankfurter Finanzviertel bereits die Rede von der „größten deutschen Immobilienpleite aller Zeiten“. Insgesamt, so zeigte sich bei einer Durchsicht der veröffentlichten Angaben in Geschäftsberichten, waren mehr als 50 verschiedene Banken involviert – allein die Deutsche Bank mit 1,3 Milliarden Mark.
Bis Februar 1994 hatte über dem Schneider-Imperium eitel Sonnenschein geherrscht. Dann kamen in Frankfurt Gerüchte über Mietausfälle bei teuren Projekten in Umlauf. Ende Februar berichtete zum ersten Mal eine Zeitung darüber, und nun geriet das Konstrukt ins Rutschen.
Denn Schneider hatte ein komplexes Schneeballsystem aufgebaut: Da die Einnahmen der bereits fertig gestellten und vermieteten Objekte nicht reichten für Zins und Tilgung, schob er immer neue Projekte an, für die er weitere Kredite aufnahm. Mit diesem Geld bezahlte er einerseits die Sanierung der neu erworbenen Immobilien und stopfte andererseits die Löcher in der Finanzierung der schon fertig gestellten Projekte. Gleichzeitig blieb er den Auftragnehmern seiner Projekte so viel Geld schuldig wie irgend möglich, oft genug mit abstrusen Begründungen.
Das System hing an der Person Jürgen Schneider: Am 30. April 1934 geboren als Sohn eines mittelständischen Bauunternehmers, hatte er nach dem Abitur 1954 zunächst eine Lehre als Maurer absolviert. Der (durchaus realistische) Gedanke dahinter: „Ich will mich nicht von anderen Handwerkern über den Tisch ziehen lassen.“
Nach dem Studium des Bauingenieurswesens an der Technischen Universität Darmstadt verfasste er an der Universität Graz eine Doktorarbeit in Staatswissenschaft zum Thema „Lohnpolitik – Konjunktur – Inflation. Beobachtungen auf dem Bausektor als Schlüsselindustrie“, die immerhin 215 Blatt dick war und damit, verglichen mit anderen Dissertationen derselben Zeit, gar nicht einmal so dünn. Allerdings ist nur in der Universitätsbibliothek Graz ein Exemplar nachgewiesen, jedoch in keiner deutschen wissenschaftlichen Bibliothek.
Der Einstieg in den Beruf gelang ihm als Bauleiter beim Konzern Philipp Holzmann AG. 1966 heiratet er die Erbin eines Elektro-Unternehmens – damit verfügte er über Kapital, einen eigenen Weg zu gehen. Denn mit seinem Vater zerstritt er sich – der wollte den ältesten Sohn zwar als Nachfolger aufbauen und hatte ihn zum Geschäftsführer des Familienbetriebs ernannt, mischte aber weiterhin kräftig mit. Deshalb kündigte Jürgen Schneider 1982 und machte sich im Immobilien-Geschäft selbstständig. Zunächst ließ er Eigentumswohnungen errichten, die er mit Gewinn verkaufte.
Sein erstes bundesweit beachtetes Großprojekt war 1986 das frühere Frankfurter Luxushotel Fürstenhof, das 1902 eröffnet, aber schon acht Jahre später bankrott gegangen war. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, diente es provisorisch saniert erst dem Bundesrechnungshof, dann dem Autobahnamt als Dienstsitz. Schneider kaufte es für rund 40 Millionen Mark und ließ es bis auf die Fassade, die Eingangshalle sowie das prächtige Treppenhaus total abreißen und neu bauen. 1991 konnte er den nun prächtigen Büro-Palast für 415 Millionen Mark verkaufen – einer der wenigen geschäftlichen Erfolge Schneiders: Er machte nach eigenen Angaben etwa 200 Millionen Mark Gewinn.
Damit wurde der Fürstenhof der wichtigste Köder für Geldgeber. Mit diesem Beispiel gelang es Jürgen Schneider gerade im Vereinigungsboom der Jahre 1990 bis 1993, immer neue Finanzierungen für ähnliche Objekte an Land zu ziehen. 18 Projekte allein in seiner Heimatstadt Frankfurt, 17 in Leipzig, acht in Hamburg, sieben in Berlin – insgesamt mehr als 170 Immobilien gehörten zeitweise zu Schneiders Firmenkonglomerat.
Doch sein Geschäftsmodell war von Beginn betrügerisch, denn kaum eines der Vorhaben trug sich wirklich selbst aus den Mieteinnahmen. Schlimmer noch: Um die benötigten Kredite zu bekommen, täuschte Schneider die Banken.
Für den Neubau des Einkaufszentrums „Les Facettes“ auf der Frankfurter Fußgängerzone Zeil gab er zum Beispiel eine Nutzfläche von 22.000 Quadratmetern an, die tatsächlich nur 9000 Quadratmetern betrug. In seinem Buch „Alle meine Häuser“ stellte Schneider das später anders dar: „Wir erreichten über 20.000 Quadratmeter begehbare Fläche, von denen aber wegen des hohen Anteils von Nebenflächen nur ca. 10.000 Quadratmeter vermietbare Flächen waren, was mir fünf Jahre Haft einbrachte.“ Doch diese Darstellung war nicht schlüssig, denn auf dem Bauschild stand die korrekte Angabe: 9000 Quadratmeter.
Im März 1994 zogen die Banken aufgrund der umlaufenden Gerüchte die Zügel an, verlangten mehr Eigenkapital und Nachweise über die Wirtschaftlichkeit der finanzierten Objekte. Schneider verschob eilig 233 Millionen Mark an Schweizer Banken und flüchtete über Ostern 1994 aus Deutschland. Ob er dabei wirklich kofferweise Bargeld bei sich hatte, blieb offen.
Der Skandal war da – und die Empörung über die leichtgläubigen Institute, die vor Gier jede Vorsicht hatten fahren lassen. Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, wehrte sich auf einer Pressekonferenz gegen Vorhaltungen an die Adresse seines Unternehmens: „Warum all der Spott? Weil es mal den Klassenprimus erwischt hat? Die Schneider-Kredite machen gerade drei Tausendstel unseres Kreditvolumens aus.“ Dann kündigte er an, eine Risikovorsorge von 500 Millionen einzuplanen – und wollte abschließend die Auftragnehmer von Schneider-Objekten beruhigen, die von der Deutschen Bank finanziert worden waren.
Das allerdings ging vollständig nach hinten los, denn Kopper sagte: „Offene Rechnungen werden wir übernehmen. Das sind Peanuts.“ Das war zwar sachlich richtig, denn tatsächlich ging es „nur“ um 35 Millionen Mark. Doch die öffentliche Wirkung war verheerend und ein wesentlicher Grund für das seither rapide verfallende Image der größten deutschen Bank.
Erst nach 13 Monate führte die internationale Fahndung nach Jürgen Schneider zum Erfolg: Er wurde am 18. Mai 1995 in Miami vor einer Bank verhaftet, in der ein Helfer gerade Bargeld abhob. Unter dem falschen Namen „Bauer“ war Schneider in Florida abgetaucht. Als Zielfahnder des BKA ihn auf Deutsch ansprachen, gab er sofort zu, der gesuchte Milliardenbetrüger zu sein.
Nach der Auslieferung nach Deutschland kam es 1997 zum Prozess. Weil das Gericht den Banken eine erhebliche Mitschuld attestierte, kam Schneider mit sechs Jahren und neun Monaten Haft davon. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet, so dass er schon im Dezember 1999 nach zwei Dritteln der Haft auf Bewährung entlassen wurden.
Allein die Deutsche Bank machte 500 Millionen Mark Wertberichtigung geltend. Eine exakte Gesamtschadenssumme ließ sich nicht ermitteln, denn die Implosion des Schneider-Immobilienimperiums führte zu einer Fülle von Folgepleiten. Doch um Milliarden handelte es sich auf jeden Fall.
Im Herbst 2015 sollte Schneider erneut vor Gericht, diesmal wegen betrügerischer Investmentgeschäfte 2008/09. Doch drei medizinische und psychiatrische Gutachter kamen zum Ergebnis, dass der Beschuldigte an mehreren Krankheiten leide, die ihn verhandlungsunfähig machten; das Verfahren gegen den damals 81-Jährigen wurde eingestellt.
30 Jahre und zwei Wochen nach Auffliegen des Betruges kann Jürgen Schneider seinen 90. Geburtstag begehen. Zu 1994 mag er sich, wie er im Februar 2024 der „Wirtschafts-Woche“ mitteilte, nicht mehr äußern: Er gebe keine Interviews mehr.