Irans Großangriff auf Israel hält viele Lehren bereit – und einige sehr unangenehme auch für Europa. Schließlich hat der Iran Fähigkeiten demonstriert, über die viele europäische Staaten nicht einmal verfügen. So hat Teheran etwa 130 ballistische Mittelstreckenraketen abgefeuert und 30 Cruise-Missiles, die jeweils über eine Reichweite von deutlich über 1000 Kilometern verfügen mussten, um von iranischem Territorium aus Israel zu erreichen. Schon Russlands Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass Raketen längerer Reichweite ein integraler Bestandteil moderner Kriegführung sind – und Europa ist darauf denkbar schlecht vorbereitet.
„Irans Raketenangriff macht erneut deutlich, dass moderne Kriege Raketenkriege sind“, schreibt Fabian Hoffmann, Raketenexperte an der Universität Oslo. „Eine effektive Raketenabwehr und glaubwürdige Fähigkeiten zurückzuschlagen sind von elementarer Wichtigkeit, um Gegner abzuschrecken. Der Widerstand europäischer Regierungen, diese Tatsache anzuerkennen, ist ärgerlich.“
Schon mit den europäischen Abwehrfähigkeiten ist es nicht sonderlich gut bestellt. Nicht einmal Israel konnte trotz Hilfe ausländischer Partner alle ballistischen iranischen Raketen abfangen, obwohl das Land über eines der besten, mehrfach gestaffelten Flugabwehrnetze der Welt verfügt und zudem nur ein vergleichsweise kleines Territorium abdecken muss. Zudem hatte das Land wegen der geografischen Entfernung zum Iran eine vergleichsweise lange Vorwarnzeit, um Raketenfluglinien berechnen zu können.
In einem potenziellen Konflikt mit Russland müssten die spärlichen europäischen Systeme einen weitaus größeren Raum abdecken. Zudem hat Russlands Krieg gegen die Ukraine gezeigt, dass Moskau systematische gegen Kriegsvölkerrecht verstößt und mit seinen Raketen und Hyperschallwaffen eben nicht allein militärisch wertvolle Ziele ins Visier nimmt, sondern auch Bevölkerungszentren und kritische Infrastruktur.
„Russland hat klargemacht, dass es mehrere Millionen Dollar teure Raketen gegen Wohnblöcke, Einkaufszentren und die Stromversorgung einsetzt. Das schafft die Notwendigkeit, im Ernstfall Hunderte Millionen europäischer Bürger zu schützen“, sagte Ben Hodges, ehemaliger Oberkommandierender der US-Armee in Europa im Interview mit WELT. „Man braucht also sehr viel Raketenabwehr, aber auch Systeme, mit denen man Hunderte von Drohnen vom Himmel holen kann.“
Europa müsste also deutlich mehr in ein gestaffeltes Netz von Flugabwehrsystemen investieren, um Angriffswaffen mit höchst unterschiedlichen Flugprofilen und Fluggeschwindigkeiten wie Kamikazedrohnen, Cruise-Missiles, ballistische Raketen und Hyperschallwaffen vom Himmel zu holen, bevor sie massiven Schaden anrichten.
Noch sehr viel schlechter sieht es bei Europas Fähigkeiten aus, den Raketenkampf auf feindliches Territorium zu tragen. Das ist aus zwei Gründen nötig. Der erste ist ökonomischer Natur. Angesichts der enorm hohen Kosten von Flugabwehrraketen und geringer Kosten von Angriffswaffen wie etwa Kamikazedrohnen, die zum Teil pro Stück nicht einmal 30.000 Euro kosten, lässt sich ein bloßer Abwehrkampf nicht lange wirtschaftlich sinnvoll führen, weshalb es nötig ist, dem Feind dieselben ungünstigen Kosten-Nutzen-Relationen aufzuzwingen.
Zudem kann wahre Abschreckung nur hergestellt werden, wenn der Gegner fürchten muss, dass das angegriffene Land den Krieg auf das Territorium des Aggressors tragen und ihm dort wehtun kann. Und dazu braucht es Waffen mit größerer Reichweite als moderne Mehrfachraketenwerfer oder auch luftgestützte Cruise-Missiles vom Typ Storm Shadow oder Taurus. So verfügt etwa die Bundesrepublik derzeit über keine Systeme mit größerer Reichweite als 500 Kilometer.
„Ein großes Problem sind meiner Meinung nach nicht nur die Zahlen verfügbarer Systeme in den Beständen der Bundeswehr, sondern auch das Fehlen einer ballistischen Kurz- beziehungsweise Mittelstreckenfähigkeit“, schreibt denn auch Hoffmann. Und das gilt genauso für andere europäische Nato-Partner.
Wie Rafael Loss und Angela Mehrer in einer Studie des European Council on Foreign Relations schreiben, hat Europa „es oft Washington überlassen, strategische Fähigkeiten zur Verteidigung Europas beizutragen und hat das Risiko akzeptiert, dass diese nicht zur Verfügung stünden, wenn US-Kräfte in anderen Teilen der Welt gebunden wären“.
Die USA haben die meisten Nato-Langstreckenwaffen
So stellten die USA den Großteil der Langstreckenfähigkeiten der Nato, das beinhalte auch Langstreckenmunition und Startplattformen wie Oberflächenschiffe, U-Boote und Langstreckenbomber. Und das seien genau die Fähigkeiten, die Washington selbst benötigen würde, falls es zu einem Konflikt mit China im indopazifischen Raum etwa um Taiwan kommen würde.
Europa denkt zudem weiterhin vor allem in Kategorien von Raketenabwehr. Dabei bedingen offensive und defensive Kapazitäten einander, wie die ECFR-Autoren schreiben. „Einen effektiven Raketenschirm über das ganze europäische Nato-Gebiet aufzuspannen wäre sowohl technisch unmöglich als auch unerschwinglich teuer“, schreiben sie.
„Die europäischen Nato-Verbündeten müssen deshalb ihre defensiven Systeme mit offensiven ergänzen, die lokalisierte Überlegenheit russischer Streitkräfte wettmachen können und die Risikokalkulation der Russen beeinflussen, weil damit hochwertige militärische Einrichtungen bedroht werden können.“
Europa unternimmt jedoch bisher keine konzertierten Anstrengungen, diese Fähigkeitslücke zu schließen. Nur wenige Nato-Partner bemühen sich, wenigstens einige Langstreckenwaffen zu erwerben. So planen etwa die Niederlande, schiffsgestützte Tomahawk-Cruise-Missiles mit einer Reichweite von 1600 Kilometern anzuschaffen; Finnland, Deutschland und die Niederlande wollen ihre in den USA bestellten F-35-Kampfflugzeuge auch mit JASSM-Marschflugkörpern ausrüsten mit einer Reichweite von etwa 1000 Kilometern.
Doch laut ECFR-Studie mangelt es vor allem auch an bodengestützten Langstreckensystemen für den Fall eines russischen Angriffs auf die Ostflanke der Nato. Der würde vom westlichen russischen Militärdistrikt geführt werden, der laut russischen Planungen bald wieder wie in sowjetischen Zeiten in die Distrikte Leningrad und Moskau aufgeteilt werden soll. Dort würden sich dann auch die russischen Kommandozentralen, Nachschublinien, Logistikzentren, mobile Raketenabschussrampen und Flugbasen befinden etwa für einen Angriff auf das Baltikum oder Polen.
„Um die östliche Flanke zu beschützen und die Sicherheitsbedenken der europäischen Verbündeten in Ost- und Zentraleuropa ernst zu nehmen, brauchen die Europäer Waffensysteme, die diese Ziele treffen können“, schreiben Loss und Mehrer. „Angesichts der Tatsache, dass Zentraleuropa aus Landmasse besteht, sind bodengestützte Optionen besonders relevant, um den neuen Verteidigungsplan der Nato für die Region zu unterstützen.“
Diese neuen Realitäten sind aber bei Weitem noch nicht in den Köpfen vieler Politiker angekommen. So hat das Magazin „.loyal“ des deutschen Reservistenverbandes gerade eine Umfrage unter den Parteien des Bundestages gemacht, ob dort die Notwendigkeit einer Aufrüstung mit konventionellen Langsteckenpräzisionswaffen verstanden wird. Das Ergebnis fällt ernüchternd aus. So sehen es nur die CDU und die FDP als notwendig an, eigene europäische Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu entwickeln.