Über eine Pflicht kann sich Ariane Reinhart richtig ärgern: die zur „nassen Unterschrift“. Die Personalvorständin des Dax-Konzerns Continental erfährt in ihrer Arbeit jeden Tag, wie sich vermeintlich kleine bürokratische Regelungen zu riesigen Belastungen auswachsen. Die Auflage besagt, Arbeitsverträge nur auf Papier und handschriftlich signiert auszustellen.
Dazu sind Unternehmen in Deutschland seit 2022 verpflichtet, durch das sogenannte Nachweisgesetz. „Wir hatten es geschafft im Rahmen der Krise, als wir nicht ins Büro kommen durften, unsere Arbeitsverträge und Änderungen daran mit digitalen elektronischen Unterschriften zu versehen. Dann kam das Nachweisgesetz, und wir mussten zurück zu Füller und Kugelschreiber“, sagt Reinhart.
Bei 44.000 Mitarbeitern in Deutschland ist allein die Menge an zusätzlichem Papier enorm, die dadurch nötig ist. Ganz zu schweigen vom Arbeitsaufwand in den Personalabteilungen.
Dass diese Regelung, basierend auf der europäischen Richtlinie über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen, übertrieben bürokratisch ausgefallen ist, hat inzwischen auch die Bundesregierung eingesehen. Nach der EU-Regulierung sind auch digitale Unterschriften erlaubt, andere EU-Länder haben das so umgesetzt. Nun soll das deutsche Gesetz gelockert werden. Andere bürokratische Belastungen bleiben aber bestehen.
Die Ampel-Koalition verspricht mit ihrem vierten Bürokratieentlastungsgesetz große Fortschritte. Der zuständige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) spart nicht an Selbstlob: Man wolle den „Bürokratie-Burnout“ beenden, „Ballast für die Wirtschaft“ abwerfen und damit ein „kostenloses Konjunkturprogramm“ schaffen, sagt er.
Doch dass die Entlastungen dafür wohl nicht reichen, ahnen die Liberalen offensichtlich auch. Gerade hat FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner gefordert, das deutsche Lieferkettengesetz auszusetzen, bis die geplante europäische Regelung greift.
Das könnte tatsächlich zu Einsparungen führen, wie das Beispiel Conti zeigt. Die Vorschriften dieses Gesetzes einzuhalten, sei angesichts von etwa 100.000 Lieferanten in der gesamten Lieferkette „nicht mehr beherrschbar“, sagt Reinhart.
„Unsere Projektgruppe umfasst fast 100 Leute über alle Ressorts, die sich nur mit diesem Thema beschäftigen. Wir mussten in zweistelliger Millionenhöhe investieren. Und dazu kommen noch die Kosten für die Prüfer.“
Natürlich wolle man Menschenrechte sicherstellen, das sei keine Frage, sagt die Managerin. „Aber wie kommen wir zu diesem Ziel mit angemessenem, vertretbarem Aufwand und einer entsprechenden Rechtssicherheit?“ Von mittelständischen Unternehmen höre sie bereits, dass man Konzerne wie Conti angesichts der künftigen Berichtspflichten nicht mehr beliefern könne. „Die Leute rufen nach Hilfe“, sagt Reinhart.
Eigentlich gilt das Gesetz nur für große Unternehmen mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Indirekt sind kleinere Firmen aber trotzdem betroffen, wenn sie die Konzerne beliefern – und für sie Daten zu den eigenen Lieferanten beschaffen müssen. Die Klagen von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden dazu reißen nicht ab.
Insgesamt steigt die Belastung durch neue Gesetze und Vorschriften in Deutschland immer weiter an. So musste die Wirtschaft allein im Jahr 2022 fast sieben Milliarden Euro aufwenden, um neue Regulierungen zu erfüllen.
Kosten für Bürokratie stiegen um mehr als 1,3 Milliarden Euro
Der jährlich wiederkehrende Aufwand stieg laut Statistischem Bundesamt in dem Jahr um 711 Millionen Euro für die Wirtschaft, um 526 Millionen Euro für die Verwaltung und um 103 Millionen Euro für die Bürger. Neuere Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor.
Immerhin sank 2022 aber der notwendige Zeitaufwand für Bürger, um staatliche Normen zu erfüllen. Das dürfte mit der fortschreitenden Digitalisierung von Verwaltungsakten zu tun haben, beispielsweise der elektronischen Steuererklärung.
Diese Entwicklung steht wohl auch hinter dem gesunkenen „Bürokratiekostenindex“ des Statistischen Bundesamts. Der Index soll den Statistikern zufolge „die bürokratische Belastung der Unternehmen greifbar machen“ und den Aufwand für die „Erledigung des klassischen ‚Papierkrams‘“ nachzeichnen. Dieser Aufwand ist über die Jahre tatsächlich gesunken.
Er könnte durchaus noch weiter zurückgehen, wenn sich die Bundesregierung die vielen Vorschläge von Managern und Lobbyisten zu Herzen nimmt, die sie im vergangenen Jahr bekommen hat.
Auch Conti-Vorständin Reinhart hat noch eine Anregung, die viel Aufwand in Unternehmen sparen würde: die Abschaffung des Arbeitszeugnisses.
Allein bei Continental würden pro Jahr rund 7000 Arbeitszeugnisse ausgestellt, das koste das Unternehmen 1,3 Millionen Euro, berichtet sie. Die Vorschriften dafür sind streng, das Zeugnis muss auf Papier erstellt werden. Dabei sei Deutschland das einzige Land, in dem es diese Form der Arbeitsbescheinigung überhaupt gibt.
„Ich sehe bei Bewerbern sowieso nicht auf das Arbeitszeugnis“, gibt Reinhart zu. Sie würde gerne mit den Sozialpartnern darüber diskutieren, ob man es durch eine andere Form des Tätigkeitsnachweises ersetzen kann – kürzer und digital. „Wir halten in Deutschland sehr lange an alten Zöpfen fest“, meint Reinhart – sie, sagt sie, wünsche sich mehr Mut, auch mal voranzugehen.